1. Definition: Was ist eine betriebliche Übung?
Dabei kann es sich um Geldzahlungen oder andere Vergünstigungen und Vorteile handeln. Durch die kontinuierliche Wiederholung in mindestens drei aufeinanderfolgenden Jahren gewöhnen sich die Arbeitnehmer an diese Leistungen und entwickeln einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch darauf. In der Regel handelt es sich um Geldzahlungen. Dies ist jedoch keine Voraussetzung.
Aus einer betrieblichen Übung leiten sich folgende Rechte für Arbeitnehmer ab:
- Rechtsanspruch auf zukünftige Leistungen: Arbeitnehmer können diese Leistungen ab dem vierten Jahr einfordern und gegebenenfalls rechtlich durchsetzen.
- Vertragliche Ergänzung: Die durch betriebliche Übung entstandenen Ansprüche werden Teil des Arbeitsvertrages.
Beispiele für eine betriebliche Übung:
- Sonderzahlungen: Weihnachts- und Urlaubsgeld, Boni oder ein 13. Monatsgehalt.
- Beiträge zu Altersversorgung oder Versicherungen
- Zahlung von Jubiläumszuwendungen
- Zuschüsse für Verpflegung, Fahrtkosten, ÖPNV-Tickets oder Gesundheitsmaßnahmen.
- Sonstige Vergünstigungen: Übernahme von Fortbildungskosten, Bereitstellung von Parkplätzen oder die Organisation von Betriebsevents wie gemeinsamen Sportgruppen.
- Anwendung von Tarifverträgen
Bei Fragen der Organisation eines Betriebs kann laut Bundesarbeitsgericht keine betriebliche Übung entstehen. Darunter fallen z.B. Regelungen zu Arbeitszeit, Urlaub, Dienstplänen und Home-Office. In diesen Fällen erlaubt es das sog. Direktionsrecht dem Arbeitgeber, im Rahmen des Arbeitsverhältnisses einseitige Anordnungen zu treffen, solange diese Anordnungen im Einklang mit den geltenden Gesetzen, Tarifverträgen, Betriebsvereinbarungen und individuellen Arbeitsverträgen stehen.
Rechtliche Grundlagen der betrieblichen Übung
Die betriebliche Übung ist in keinem Gesetz explizit aufgeführt, sie wurde jedoch durch verschiedene Urteile des Bundesarbeitsgerichts rechtlich anerkannt. Zwei wesentliche Grundsätze des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) stützen diese Praxis:
- Vertragsschluss durch konkludentes Handeln (§ 151 BGB): Verträge können auch ohne ausdrückliche Erklärung durch schlüssiges Verhalten zustande kommen. Im Fall der Betriebsübung kann die Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers als Vertragsangebot ausgelegt werden, das durch den Arbeitnehmer konkludent (stillschweigend) angenommen wird.
- Prinzip von Treu und Glauben (§ 242 BGB): Dieses Prinzip erfordert, dass die Vertragsparteien sich gemäß der „Verkehrssitte“ verhalten und schutzwürdiges Vertrauen respektieren. Im Kontext der betrieblichen Übung bedeutet dies, dass der Arbeitgeber durch sein wiederholtes und gleichförmiges Verhalten eine Vertrauenserwartung beim Arbeitnehmer erzeugt, an die er dann gebunden ist.
2. Beenden einer entstandenen betrieblichen Übung
Ist eine betriebliche Übung einmal entstanden, kann der Arbeitgeber diese nur schwer wieder beseitigen:
Einseitiger Widerruf
Ein einseitiger Widerruf der Leistung ist nicht möglich, es sei denn, der Arbeitgeber hat sich im Voraus einen klaren Widerrufsvorbehalt vorbehalten. Auch dieser muss rechtsgültig und transparent formuliert sein.
Gegenläufige betriebliche Übung
Entgegen der früheren Rechtsprechung kann eine betriebliche Übung nicht mehr durch eine gegenläufige betriebliche Übung beseitigt werden.
Auch wenn die neue nachteilige Praxis über drei Jahre hinweg durchgeführt wird, ändert das nicht die zuvor entstandene für den Arbeitnehmer positive betriebliche Übung.
Diese Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof 2009 aufgegeben, weil diese gegen das Klauselverbot für fingierte Erklärungen nach § 308 Nr. 5 BGB verstößt. Diese Vorschrift verbietet Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach das Schweigen des Vertragspartners (hier des Arbeitnehmers) als Erklärung mit einem bestimmten Inhalt anzusehen ist. Genau diese Rechtsfolge trat jedoch nach der alten Rechtsprechung ein, da das Schweigen des Arbeitnehmers auf die neue nachteilige Praxis des Arbeitgebers als Annahme ausgelegt und damit der Anspruch aus Betriebsübung beseitigt wurde.
Betriebsvereinbarung
Eine betriebliche Übung kann nicht durch eine Betriebsvereinbarung abgeschafft werden, weil die aus der betrieblichen Übung folgenden Ansprüche Bestandteil des individuellen Arbeitsvertrages sind und der Betriebsrat nicht befugt ist, zu Lasten der Arbeitnehmer in diese Verträge einzugreifen.
Dies basiert auf dem Günstigkeitsprinzip, wonach Betriebsvereinbarungen nur Regelungen enthalten dürfen, die für den Arbeitnehmer besser sind als die des Einzelarbeitsvertrags.
Dem Arbeitgeber bleiben folgenden Maßnahmen, um die entstandene betriebliche Übung wieder zu beseitigen:
Änderungskündigung
Der Arbeitgeber kann eine Änderungskündigung aussprechen und den Mitarbeitenden neue Vertragsbedingungen anbieten, welche die bisherigen freiwilligen Leistungen ausschließen.
Damit eine Änderungskündigung wirksam ist, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- Die Kündigung und das geänderte Vertragsangebot müssen schriftlich und damit ausdrücklich erfolgen. Es genügt also nicht, dass der Arbeitgeber bestimmte Vorteile nicht mehr gewährt.
- Die gesetzlichen oder vertraglich vereinbarten Kündigungsfristen müssen eingehalten werden.
- Die Änderungskündigung muss durch betriebliche Erfordernisse bedingt sein, z.B. Umstrukturierungen, Kostensenkungsmaßnahmen oder organisatorische Änderungen.
- Die Änderungskündigung muss sozial gerechtfertigt sein, d.h., sie muss den sozialen Gesichtspunkten ausreichend Rechnung tragen.
- Der Arbeitgeber muss prüfen, ob es mildere Mittel als eine Kündigung gibt, um das Ziel zu erreichen. Eine Änderungskündigung darf nur das letzte Mittel sein.
- Der Arbeitgeber muss ein klares und verbindliches Angebot neuer Vertragsbedingungen vorlegen. Diese neuen Bedingungen müssen dem Arbeitnehmer zumutbar sein und dürfen nicht willkürlich schlechter als die bisherigen Bedingungen sein.
Der Arbeitnehmer hat bei Erhalt einer Änderungskündigung folgende Möglichkeiten. Er kann…
- das Änderungsangebot vorbehaltslos annehmen.
- das Änderungsangebot unter Vorbehalt annehmen und gleichzeitig die Änderungskündigung auf ihre soziale Rechtfertigung hin überprüfen lassen.
- das Angebot ablehnen. In diesem Fall wird die normale Kündigung wirksam, und das Arbeitsverhältnis endet nach Ablauf der Kündigungsfrist.
Einvernehmliche Vertragsänderung
Der Arbeitgeber kann durch Verhandlungen und Absprachen versuchen, eine einvernehmliche Lösung mit den Mitarbeitenden zu finden. Sowohl das Änderungsangebot mit den neuen Vertragsbedingungen als auch die Zustimmung des Arbeitnehmers müssen schriftlich erfolgen. Die Änderungen sind im Arbeitsvertrag oder als Zusatzvereinbarung zu dokumentieren.
3. Ausschließen des Entstehens einer betrieblichen Übung
Für den Arbeitgeber ist es extrem schwierig, eine einmal entstandene betriebliche Übung zu beseitigen. Er hat jedoch verschiedene Möglichkeiten, die Entstehung einer betrieblichen Übung von vornherein zu verhindern:
Freiwilligkeitsvorbehalt
Ein Freiwilligkeitsvorbehalt in Arbeitsverträgen oder in Zusammenhang mit jeder Zahlung stellt klar, dass die Leistung ohne Anerkennung einer Rechtsverpflichtung erfolgt und für die Zukunft keine Ansprüche begründet werden. Der Vorbehalt muss präzise formuliert sein.
Unregelmäßigkeit der Leistungen
Werden Leistungen nicht regelmäßig oder in gleichbleibender Höhe gewährt, wird keine fortlaufende Praxis etabliert. In diesem Fall entsteht auch keine Betriebsübung.
Expliziter Ausschluss im Arbeitsvertrag
Bei neu eingestellten Mitarbeitern kann im Arbeitsvertrag vereinbart werden, dass diese von den bestehenden betrieblichen Übungen ausgenommen sind. Für die Ausnahme muss allerdings ein sachlicher Grund bestehen.
Beispiele:
- Der neue Arbeitnehmer wird in einer Führungsposition eingestellt und erhält keine Überstundenvergütung, weil von Führungskräften erwartet wird, dass sie ihre Arbeitszeit flexibel gestalten.
- Ein Mitarbeiter wird für ein zeitlich befristetes Projekt eingestellt, das spezielle Arbeitszeiten oder Vergütungsregelungen erfordert. Er erhält kein Weihnachtsgeld, da Beweggründe wie Motivation und Bindung an das Unternehmen aufgrund der befristeten Tätigkeit eine untergeordnete Rolle spielen.
- Der neue Arbeitnehmer arbeitet komplett remote und bekommt kein vergünstigtes Essen in der Mitarbeiterkantine, da er nicht regelmäßig in der Kantine isst.
Doppelte Schriftformklauseln
Früher war es möglich, mithilfe einer sogenannten doppelten Schriftformklausel eine betriebliche Übung zu verhindern. Das ist allerdings durch die neuere Rechtsprechung nur noch im Ausnahmefall möglich.
Einfache Schriftformklausel | Doppelte Schriftformklausel | |
Beispiel | Änderungen und Ergänzungen dieses Arbeitsvertrages bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Mündliche Nebenabreden bestehen nicht. | Änderungen und Ergänzungen dieses Arbeitsvertrages sowie die Abänderung dieser Schriftformklausel bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform. Mündliche Nebenabreden bestehen nicht. |
Einschätzung | Diese Klausel besagt, dass jegliche Änderungen oder Ergänzungen des Arbeitsvertrags schriftlich erfolgen müssen. Sie verhindert jedoch nicht das Entstehen von betrieblichen Übungen, da – wenn beispielsweise eine betriebliche Übung formlos erfolgt und länger praktiziert wird – diese Klausel durch schlüssiges Verhalten (Handlungen, die andauern und als stillschweigende Zustimmung gelten) aufgehoben werden kann. | Diese Klausel ist doppelt bindend, weil sie festlegt, dass nicht nur Vertragsänderungen schriftlich erfolgen müssen, sondern auch jede Änderung der Schriftformklausel selbst ebenfalls der Schriftform bedarf. Theoretisch wird dadurch nicht nur die ursprüngliche Schriftform geschützt, sondern auch der mögliche Weg zur stillschweigenden Aufhebung der Klausel verbaut.Trotzdem erkennt auch das Bundesarbeitsgericht inzwischen an, dass solche Klauseln meist der gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten, vor allem dann, wenn durch dauerhafte Handhabung (z.B. durch wiederholte, formlose betriebliche Übungen) eine Abweichung zur gängigen Praxis wird. |
4. Fazit
- Die betriebliche Übung schafft aus wiederholten, freiwilligen Leistungen des Arbeitgebers rechtlich bindende Ansprüche für die Arbeitnehmer.
- Arbeitnehmer haben ab dem vierten Jahr einen rechtlichen Anspruch auf ursprünglich freiwillige Leistungen des Arbeitgebers. Dieser Anspruch kann auch gerichtlich durchgesetzt werden, falls die Leistungen nicht erbracht werden.
- Arbeitgeber können die Entstehung einer betrieblichen Übung durch klare Freiwilligkeitsvorbehalte und Unregelmäßigkeit der Leistungen verhindern. Solche Vorbehalte müssen allerdings präzise formuliert und regelmäßig kommuniziert werden.
- Ein einmal entstandener Anspruch aus einer betrieblichen Übung kann nicht einseitig widerrufen oder durch eine gegenläufige betriebliche Übung aufgehoben werden. Möglich sind nur Maßnahmen wie Änderungskündigungen oder einvernehmliche Vertragsänderungen.